15
«Poirot», sagte ich, «müssen wir an Türen horchen?»
«Beruhigen Sie sich, mein Freund. Gehorcht habe doch nur ich! Sie standen stramm wie ein Soldat daneben.»
«Aber gehört habe ich es trotzdem.»
«Allerdings. Mademoiselle sprach nicht im Flüsterton.»
«Weil sie glaubte, dass wir schon weg waren.»
«Es war eine kleine Täuschung.»
«Ich bin nicht für solche Sachen, Poirot!»
«Sie sind eben ein tadelloser Charakter. Aber wir wiederholen uns. Dieses Gespräch haben wir schon bei verschiedenen Anlässen geführt. Sie finden mein Verhalten unsportlich. Und ich erwidere: Mord ist kein Sport.»
«Aber hier ist doch keine Rede von Mord.»
«Seien Sie davon nicht so überzeugt!»
«Mordabsicht – vielleicht. Aber Mord und Mordversuch sind nicht das Gleiche.»
«Moralisch doch. Aber sind Sie wirklich so sicher, dass wir es nur mit einem Mordversuch zu tun haben?»
Ich starrte ihn an. «Die alte Miss Arundell starb eines völlig natürlichen Todes.»
«Sind Sie dessen so sicher?», wiederholte er.
«Jeder sagt es!»
«Jeder? Oh, là, là!»
«Der Arzt sagt es, Doktor Grainger muss es ja wissen.»
«Ja, er müsste es wissen. Aber oft und oft wird eine Leiche exhumiert, und jedes Mal hat der behandelnde Arzt im besten Glauben einen Totenschein ausgestellt.»
«Miss Arundell starb an einem langwierigen Leiden.»
«So scheint es», versetzte Poirot in unzufriedenem Ton.
Ich sah ihn neugierig an. «Poirot, gehen Sie in Ihrem beruflichen Eifer nicht vielleicht zu weit? Sie wollen, dass es ein Mord ist, und daher muss es ein Mord sein.»
«Ein kluges Wort, Hastings. Sie rühren an einen wunden Punkt. Mord ist mein Geschäft. Ich bin wie ein großer Chirurg, der sich auf – sagen wir – Blinddarmentzündungen spezialisiert hat. Ein Patient sucht ihn auf, und er betrachtet den Patienten lediglich als Blinddarmkranken. Es kommt ihm gar nicht der Gedanke, der Mann könnte an etwas anderem leiden… So bin ich. Ich frage mich immer: ‹Kann das ein Mord sein?› Und sehn Sie, mein Freund, die Möglichkeit besteht fast immer.»
«In diesem Fall ist die Möglichkeit aber sehr gering.»
«Sie starb, Hastings, darum kommen Sie nicht herum! Sie starb!»
«Sie war krank und über siebzig. Mir erscheint das ganz natürlich.»
«Erscheint es Ihnen auch natürlich, dass Theresa Arundell ihren Bruder mit solcher Heftigkeit einen Esel nannte?»
«Was hat das damit zu tun?»
«Viel! Sagen Sie mir einmal, was halten Sie von Charles Arundells Behauptung, dass seine Tante ihm ihr zweites Testament gezeigt habe?»
Vorsichtig fragte ich zurück: «Was halten Sie davon?»
«Ich finde es interessant, hochinteressant. Auch die Wirkung auf Theresa. Das stumme Duell der beiden lässt tief blicken, sehr tief.»
«Hm!», sagte ich verständnislos.
«Es erschließt deutlich zwei Wege der Nachforschung.»
«Die beiden sind ein nettes Gaunerpaar. Zu allem bereit. Das Mädchen ist zum Staunen hübsch. Und Charles ist jedenfalls ein sympathischer Halunke.»
Poirot rief ein Taxi und gab dem Lenker den Auftrag, uns zu Clanroyden Mansions in Bayswater zu fahren.
«Miss Lawson ist also unsere nächste Station?», fragte ich. «Und dann die Tanios?»
«Sehr richtig, Hastings.»
«Welche Rolle werden Sie hier spielen?», erkundigte ich mich, als der Wagen vor Clanroyden Mansions hielt. «Den Biografen General Arundells, den Käufer von Littlegreen House oder eine noch klüger ausgetüftelte Rolle?»
«Ich werde einfach Hercule Poirot sein.»
«Welche Enttäuschung!», spottete ich, aber er warf mir nur einen Blick zu und bezahlte den Taxichauffeur.
Miss Lawson wohnte im zweiten Stock. Ein schnippisch aussehendes Stubenmädchen öffnete und führte uns in einen Salon, der im Gegensatz zu Theresas modern kahlem Zimmer geradezu üppig wirkte. Er war mit Möbeln und allem möglichen Kram so überfüllt, dass man sich kaum zu bewegen wagte, um nichts umzuwerfen.
Nach kurzer Zeit erschien eine ziemlich dicke Dame in mittleren Jahren. Miss Lawson entsprach fast genau dem Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte. Sie hatte ein beflissenes, recht einfältiges Gesicht und unordentliches graues Haar; eine Brille saß etwas schief auf ihrer Nase. Ihre Sprechweise war sprunghaft und von häufigen Kunstpausen unterbrochen.
«Guten Morgen – äh – ich habe nicht das – »
«Miss Wilhelmina Lawson?»
«Ja. Ja, das bin ich…»
«Mein Name ist Poirot, Hercule Poirot. Ich besichtigte gestern Littlegreen House.»
«Oh, wirklich?» Ihr Mund stand ein wenig offen; sie versuchte vergeblich, ihr wirres Haar zu glätten. «Wollen Sie nicht Platz nehmen?» Sie setzte sich auf einen unbequemen Stuhl, die Brille noch immer schief auf der Nase, beugte sich atemlos vor und sah Poirot erwartungsvoll an.
«Ich erschien in Littlegreen House als angeblicher Käufer», fuhr er fort. «Aber ich möchte gleich erwähnen – es ist streng vertraulich – »
«Selbstverständlich», hauchte Miss Lawson, offensichtlich angenehm erregt.
«Streng vertraulich», wiederholte Poirot. «Mein Zweck war ein anderer… Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass Miss Arundell kurz vor ihrem Ableben an mich schrieb – » Er machte eine Pause und sagte dann: «Ich bin ein bekannter Privatdetektiv.»
Schrecken, Erregung, Erstaunen und Verwunderung wechselten in Miss Lawsons leicht gerötetem Gesicht, und ich fragte mich, welchem dieser Gefühle Poirot wohl die meiste Bedeutung beimessen werde.
«Oh!», sagte sie. Und dann nochmals: «Oh!» Nach einer Weile fragte sie ganz unerwartet: «Hat sie Ihnen wegen des Geldes geschrieben?»
Sogar Poirot war überrascht. Behutsam begann er: «Sie meinen das Geld, das – »
«Ja, ja. Das Geld, das aus der Schublade verschwand.»
Ruhig fragte Poirot: «Miss Arundell erzählte Ihnen nicht, dass sie wegen des Geldes an mich schrieb?»
«Nein, ich hatte keine Ahnung. Ich muss gestehen, ich bin höchst überrascht – »
«Sie dachten, dass sie es niemandem anvertrauen würde?»
«Ja, das dachte ich allerdings. Sie wusste so gut wie sicher, wer – »
Wieder brach sie ab, und Poirot ergänzte schnell: «– wer es genommen hat. Das wollen Sie doch sagen, nicht wahr?»
Miss Lawson nickte und fuhr außer Atem fort: «Ich hätte nicht gedacht, dass sie jemand Fremden – ich meine, sie sagte doch – das heißt, sie fühlte – »
Poirot unterbrach höflich dieses unzusammenhängende Gestammel. «Es war eine Familienangelegenheit?»
«Ganz richtig.»
«Aber ich», erklärte Poirot, «ich bin Spezialist für Familienaffären. Ich bin äußerst diskret, wissen Sie.»
Miss Lawson nickte lebhaft. «Oh, natürlich – das ist etwas ganz anderes. Das ist nicht so wie die Polizei.»
«Nein, ich bin nicht so wie die Polizei. An die hätte sie sich nicht wenden können.»
«Natürlich nicht. Die liebe Miss Arundell war so stolz! Es hatte schon früher Unannehmlichkeiten mit Charles gegeben, aber es wurde immer vertuscht. Einmal, glaube ich, wurde er sogar nach Australien geschickt!»
«Eben, eben», sagte Poirot. «Der Sachverhalt war also folgender: Miss Arundell hatte einen Geldbetrag in einer Schublade – »
Er brach ab, und Miss Lawson beeilte sich, seine Worte zu bestätigen. «Ja, von der Bank. Für die Löhne, wissen Sie, und die Lieferantenrechnungen.»
«Wie viel fehlte?»
«Vier Pfundnoten. Nein, falsch! Drei Pfundnoten und zwei Zehnshillingnoten. Man muss in solchen Fällen sehr genau sein, das weiß ich.» Miss Lawson sah ihn tiefernst an und rückte geistesabwesend die Brille noch schiefer.
«Danke, Miss Lawson. Ich sehe, Sie besitzen einen hervorragenden Tatsachensinn.»
Miss Lawson plusterte sich ein wenig auf und lächelte bescheiden abwehrend.
«Miss Arundell hegte den wahrscheinlich nicht unbegründeten Verdacht, dass ihr Neffe Charles diesen Diebstahl begangen hatte?»
«Ja.»
«Obwohl kein Beweis vorlag, wer der Täter war?»
«Oh, es muss Charles gewesen sein! Mrs Tanios wäre zu so etwas nicht fähig, und ihr Mann war ein Fremder und hatte keine Ahnung, wo das Geld verwahrt war – beide wussten das nicht. Und Theresa Arundell würde sich meines Erachtens mit so etwas nicht abgeben. Sie hat Geld genug und geht immer so elegant.»
«Vielleicht war es jemand vom Personal», meinte Poirot.
Miss Lawson war entsetzt. «Ausgeschlossen, weder Ellen noch Annie wäre so etwas auch nur im Traum eingefallen! Beide sind hochanständig und grundehrlich.»
Poirot schwieg eine Weile, dann sagte er: «Können Sie mir vielleicht erklären – sicherlich können Sie es, denn wenn jemand Miss Arundells Vertrauen besaß, dann jedenfalls Sie – »
Verwirrt murmelte Miss Lawson: «Oh, ich weiß nicht recht – », aber sie fühlte sich sichtlich geschmeichelt.
«Sie können mir bestimmt behilflich sein.»
«Wenn es mir möglich ist – gern – alles – »
«Streng vertraulich, natürlich», sagte Poirot.
Ein listiger Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Die Zauberworte «Streng vertraulich!» schienen ein «Sesam, öffne dich!» zu sein.
«Haben Sie eine Ahnung, aus welchem Grund Miss Arundell ihr Testament änderte?»
Miss Lawson schien ein wenig verblüfft zu sein. «Ihr Testament? Oh – ihr Testament?»
Ohne sie aus den Augen zu lassen, fuhr Poirot fort: «Sie machte doch kurz vor ihrem Tod ein anderes Testament und hinterließ alles Ihnen.»
«Ja, aber davon wusste ich nichts. Gar nichts!» Miss Lawsons Stimme wurde schrill. «Es war eine ungeheure Überraschung für mich! Eine wunderbare Überraschung natürlich! Diese unerwartete Großzügigkeit! Miss Arundell machte mir niemals auch nur die geringste Andeutung. Als der Anwalt das Testament vorlas, war ich so fassungslos, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. Natürlich hatte ich manchmal gehofft, sie könnte mir eine Kleinigkeit vermachen, eine ganz kleine Kleinigkeit, obwohl nicht einmal dazu ein Anlass vorlag. Ich war doch erst so kurze Zeit bei ihr. Aber das – das war wie ein Märchen. Noch nicht einmal jetzt kann ich es glauben. Und manchmal – ja, manchmal ist mir nicht ganz geheuer zu Mute. Ich meine – ich meine – »
Die Brille glitt ihr von der Nase; sie fing sie auf, fuchtelte damit herum und fuhr noch unzusammenhängender fort: «Manchmal habe ich das Gefühl – Fleisch und Blut bleiben schließlich Fleisch und Blut, und es ist für mich ein unbehaglicher Gedanke, dass Miss Arundell der eigenen Familie ihr ganzes Geld entzogen hat. Ich meine – es gehört sich eigentlich nicht, verstehen Sie, wie ich es meine? Wenigstens nicht das ganze. Ein solches Vermögen! Niemand hatte geahnt, wie groß es war. Aber – es ist so peinlich – alle Leute reden, wissen Sie – und ich war im ganzen Leben nicht berechnend! Ich hätte mir nie einfallen lassen, Miss Arundell zu beeinflussen. Es wäre mir auch gar nicht gelungen. Ehrlich gesagt, hatte ich immer ein ganz klein wenig Angst vor ihr. Sie war so schroff, wissen Sie, sie fuhr einen gleich an! Manchmal war sie geradezu grob. ‹Seien Sie nicht so dumm!› fuhr sie mich an. Und man hat doch schließlich auch seinen Stolz, und manchmal war ich ganz außer mir… Und jetzt sehe ich, dass sie mich die ganze Zeit gern hatte – ist es nicht wunderbar? Nur, wie gesagt, es wird so viel Unfreundliches geredet – und – und es scheint tatsächlich eine Ungerechtigkeit gegen gewisse Personen zu sein, finden Sie nicht?»
«Sie würden also vorziehen, auf die Erbschaft zu verzichten?» Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte ich einen ganz anderen Ausdruck in Miss Lawsons stumpfen, hellblauen Augen aufflackern zu sehen. In dieser Sekunde schien dort nicht eine sympathisch dumme, sondern eine kluge, scharfsinnige Frau zu sitzen.
Sie lachte kurz auf. «Nun, die Sache hat auch eine andere Seite… Ich will sagen, alles hat zwei Seiten. Ich meine nämlich – es war doch Miss Arundells ausdrücklicher Wunsch, dass ich das Geld erhalte, nicht wahr? Wenn ich es nicht annähme, würde ich ihren Wünschen zuwiderhandeln. Und das gehört sich ebenfalls nicht, finden Sie nicht auch?»
«Eine schwierige Frage», sagte Poirot und schüttelte den Kopf.
«Ja, und mir geht das alles so zu Herzen! Bella Tanios ist eine so nette Frau – und die lieben Kleinen! Ich bin überzeugt, es lag nicht in Miss Arundells Absicht, dass Bella – ich glaube, Miss Arundell überließ das meinem Ermessen. Sie wollte das Geld nicht unmittelbar Bella vermachen, damit dieser Mann es nicht in die Hände bekommt.»
«Welcher Mann?»
«Doktor Tanios. Wissen Sie, Mr Poirot, er hat die Ärmste völlig in seiner Hand. Sie tut alles – alles, was er sagt. Ich glaube, sie würde sogar jemanden umbringen, wenn er es ihr befiehlt! Und sie hat Angst vor ihm. Bestimmt hat sie Angst vor ihm. Ich habe sie das eine oder andere Mal geradezu verstört gesehen! Das ist doch nicht recht, Mr Poirot – Sie werden doch nicht behaupten, dass das recht sei!»
Poirot behauptete es nicht, sondern fragte: «Was für ein Mensch ist Doktor Tanios?»
«Nun ja», meinte Miss Lawson zögernd, «er ist ein sehr angenehmer Mann.» Unschlüssig hielt sie inne.
«Aber Sie trauen ihm nicht?»
«Ich – nun, nein. Ich würde wohl keinem Mann sehr trauen. Man hört so schreckliche Sachen. Und die armen Frauen müssen so viel mitmachen! Doktor Tanios gibt sich seiner Frau gegenüber natürlich sehr zärtlich. Er hat bezaubernde Manieren. Aber ich traue Ausländern nicht. Sie sind so verschlagen. Und ich bin überzeugt, die liebe Miss Arundell wollte ihr Geld nicht in seine Hände geraten lassen!»
«Es ist hart für Miss Theresa und Mr Charles Arundell, dass auch sie enterbt wurden», bemerkte Poirot.
Miss Lawsons Gesicht rötete sich. «Ich finde, dass Theresa so viel Geld hat, als gut für sie ist!», antwortete sie mit Schärfe. «Sie gibt Unmengen allein für ihre Kleider aus. Und ihre Unterwäsche – lasterhaft! Wenn man bedenkt, wie viele nette, wohl erzogene Mädchen sich ihr Brot verdienen müssen – »
Zuvorkommend beendete Poirot den Satz: «Sie sind der Ansicht, es könnte ihr nicht schaden, wenn sie eine Zeit lang ihr Brot selber verdienen müsste?»
Miss Lawson sah ihn feierlich an. «Es würde ihr guttun. Es würde sie zur Vernunft bringen. Not ist die beste Lehrmeisterin.»
Poirot nickte langsam, ohne sie aus den Augen zu lassen. «Und Charles?»
«Charles verdient es nicht, auch nur einen Penny zu kriegen», versetzte Miss Lawson energisch. «Wenn Miss Arundell ihn enterbte, hatte sie guten Grund – nach seinen geradezu verbrecherischen Drohungen!»
«Drohungen?» Poirot hob die Brauen.
«Ja, Drohungen!»
«Wieso Drohungen? Wann drohte er ihr?»
«Das war – lassen Sie mich nachdenken – ja, natürlich – zu Ostern. Am Ostersonntag obendrein!»
«Was sagte er?»
«Er verlangte Geld von ihr, und sie schlug es ab. Und das, sagte er, das sei unklug von ihr. Er sagte, wenn sie so weitermache, würde er sie – wie sagte er nur? Irgendein ordinäres Wort! – ja, würde er sie abmurksen!»
«Er drohte ihr, sie abzumurksen?»
«Ja.»
«Und was antwortete Miss Arundell?»
«Sie antwortete: ‹Du wirst noch dahinterkommen, Charles, dass ich mich zu schützen weiß.›»
«Waren Sie im Zimmer anwesend?»
«Im Zimmer eigentlich nicht», erwiderte Miss Lawson nach kurzem Zögern.
«Verstehe, verstehe», sagte Poirot hastig. «Und was entgegnete Charles?»
«Er entgegnete: ‹Ich habe dich gewarnt!›»
«Nahm Miss Arundell die Drohung ernst?»
«Ja, ich weiß nicht… Mir sagte sie nichts davon… Aber das war auch nicht zu erwarten.»
Ruhig fragte Poirot: «Sie wussten natürlich, dass Miss Arundell ein anderes Testament machte?»
«Nein, nein. Ich sagte Ihnen doch, ich war ganz überrascht. Ich hätte mir nie träumen – »
Er unterbrach sie. «Sie kannten den Inhalt nicht. Aber Sie wussten, dass ein anderes Testament gemacht wurde?»
«Nun – ich vermutete – ich meine, da sie doch den Rechtsanwalt kommen ließ, als sie das Bett hüten musste – »
«Sie hatte einen Unfall, nicht wahr?»
«Ja, einen Sturz. Bob war daran schuld – er ließ seinen Ball oben auf der Treppe liegen – und sie stolperte und fiel hinunter.»
«Ein gefährlicher Unfall?»
«Mein Gott, ja, sie hätte sich Arme und Beine brechen können, sagte der Arzt.»
«Es hätte ihr Tod sein können.»
«Ja, wirklich.» Offen und ungezwungen war die Antwort erfolgt.
Poirot lächelte. «Ich glaube, ich sah Bob in Littlegreen House.»
«Ach ja. Er ist ein liebes Hündchen.»
Nichts ärgert mich mehr, als wenn ich einen guten Terrier ein «liebes Hündchen» nennen höre. Kein Wunder, dass Bob Miss Lawson verachtete und ihr nie gehorchte.
«Er ist sehr klug, nicht wahr?», fragte Poirot.
«Sehr.»
«Wie er sich kränken würde, wenn er wüsste, dass er sein Frauchen fast umgebracht hätte!»
Miss Lawson schüttelte stumm den Kopf und seufzte.
«Glauben Sie», fragte Poirot, «dass dieser Sturz Miss Arundell veranlasste, ein anderes Testament zu machen!»
Wir kamen dem Kern der Sache gefährlich nahe, schien es mir, aber Miss Lawson schien die Frage vollkommen natürlich zu finden.
«Es würde mich nicht wundern, wenn Sie Recht hätten», antwortete sie. «Es war ein Schock für sie. Alte Leute denken nie gern ans Sterben. Aber wenn ihnen so etwas zustößt, beginnen sie doch zu grübeln. Oder vielleicht hatte sie eine Vorahnung, dass ihr Tod bevorstand.»
«Ihre Gesundheit war ganz gut, nicht wahr?», fragte Poirot beiläufig.
«Oh, gewiss. Sehr gut.»
«Die Krankheit muss plötzlich gekommen sein.»
«Ja. Ganz überraschend. Wir hatten am Abend Besuch – »
«Ich weiß. Ihre Freundinnen, die Schwestern Tripp. Ich habe die Damen kennen gelernt und finde sie bezaubernd.»
Miss Lawson errötete vor Freude. «Ja, nicht wahr? So gebildet! So vielseitig! Und so vergeistigt! Haben sie Ihnen von den Séancen erzählt? Sie sind wahrscheinlich kein Anhänger – aber ich wollte, ich könnte Ihnen die unaussprechliche Freude begreiflich machen, die es einem gewährt, wenn man sich mit den Verstorbenen in Verbindung setzen kann.»
«Ich kann es mir lebhaft vorstellen.»
«Denken Sie sich, Mr Poirot, meine Mutter sprach zu mir – mehr als einmal. Welche Seligkeit, zu wissen, dass verstorbene Angehörige noch immer an uns denken und über uns wachen!»
«Das begreife ich vollkommen», antwortete Poirot sanft. «War auch Miss Arundell eine Anhängerin?»
Miss Lawsons Gesicht umwölkte sich ein wenig. «Sie war nahe daran, sich überzeugen zu lassen», erwiderte sie unsicher. «Aber ich glaube, sie stand der Sache nicht immer mit dem nötigen Ernst gegenüber. Sie war skeptisch und misstrauisch – und manchmal traten infolge dieser Einstellung höchst unerwünschte Geister mit uns in Verbindung! Wir erhielten geradezu haarsträubende Botschaften – alles, glaube ich, nur wegen Miss Arundells Einstellung.»
«Wahrscheinlich, wahrscheinlich!»
«Aber am letzten Abend – vielleicht haben Isabel und Julia es Ihnen erzählt? – waren die Erscheinungen ganz deutlich. Eine beginnende Materialisation. Ektoplasma – Sie wissen vermutlich, was Ektoplasma ist?»
«Ja, ich bin im Bild.»
«Es quillt in Form eines Bandes aus dem Mund des Mediums hervor und nimmt Gestalt an. Ich bin jetzt überzeugt, Mr Poirot, dass Miss Arundell selbst, ohne dass sie es ahnte, ein Medium war. An diesem Abend sah ich deutlich ein leuchtendes Band aus ihrem Mund hervorquellen. Und dann umzog ein leuchtender Schein ihren Kopf.»
«Sehr interessant!»
«Leider wurde ihr plötzlich übel, und wir mussten die Séance abbrechen.»
«Wann ließen Sie den Arzt kommen?»
«Gleich am folgenden Morgen.»
«Hielt er die Sache für ernst?»
«Er schickte am selben Abend eine Pflegerin, aber ich glaube, er rechnete damit, dass sie den Anfall überstehen werde.»
«Wurden denn die Angehörigen nicht verständigt?»
Miss Lawson errötete. «Sie wurden so bald als möglich verständigt – das heißt, als Doktor Grainger erklärte, es bestehe Gefahr.»
«Was war die Ursache dieses Anfalls? Hatte sie etwas gegessen, das sie nicht vertrug?»
«Nein, das glaube ich kaum. Doktor Grainger sagte allerdings, sie habe keine Diät mehr gehalten. Ich vermute, er schrieb den Anfall einer Erkältung zu. Das Wetter war sehr unbeständig.»
«Theresa und Charles Arundell waren über das Wochenende zu Besuch gekommen, nicht wahr?»
Miss Lawson bejahte.
«Sie hatten nicht viel Glück mit ihrem Besuch», meinte Poirot, den Blick auf Miss Lawson geheftet.
«Nein.» Giftig fügte sie hinzu: «Miss Arundell wusste, was sie hergeführt hatte.»
«Nämlich?»
«Geld!», versetzte Miss Lawson bissig. «Aber sie bekamen keins!»
«Nicht?»
«Und ich glaube, das war auch der Grund, weshalb dann Doktor Tanios kam.»
«Doktor Tanios? Er kam doch an diesem Wochenende nicht nach Basing?»
«Doch. Am Sonntag. Er blieb aber nur eine Stunde.»
«Alle scheinen auf das Geld der armen Miss Arundell Jagd gemacht zu haben.»
«Ein unerfreulicher Gedanke!»
«Wahrlich!», sagte Poirot. «Es muss ein großer Schlag für Charles und Theresa Arundell gewesen sein, als sie an diesem Wochenende erfuhren, das ihre Tante sie enterbt hatte.»
Miss Lawson starrte ihn an.
«Das war doch der Fall?», fragte er weiter. «Sie teilte es ihnen ausdrücklich mit, nicht wahr?»
«Das könnte ich nicht sagen. Ich hörte nichts dergleichen. Es gab auch meines Wissens keinen Streit oder etwas Ähnliches. Charles und Theresa waren anscheinend lustig und guter Dinge, als sie wegfuhren.»
«Vielleicht wurde ich schlecht unterrichtet. Miss Arundell bewahrte ihr Testament im Haus auf, nicht wahr?»
Miss Lawson ließ die Brille fallen und bückte sich danach. «Das weiß ich nicht. Nein, ich glaube, es lag bei Mr Purvis.»
«Wer war Testamentsvollstrecker?»
«Mr Purvis.»
«Kam er nach Miss Arundells Tod ins Haus, um ihre Papiere durchzusehn?»
Miss Lawson bejahte, und Poirot sah sie scharf an; als er die nächste, unerwartete Frage stellte: «Können Sie Mr Purvis gut leiden?»
«Ob ich ihn gut leiden kann? Das – das ist wirklich schwer zu sagen. Ich meine, er ist bestimmt ein sehr kluger Mann – ein sehr kluger Anwalt, meine ich. Aber so schroff! Es ist nicht immer angenehm, wenn jemand mit einem spricht, der so tut, als ob er – ich kann das nicht erklären – er drückte sich immer sehr höflich aus, aber zugleich war er geradezu grob, wenn Sie mich richtig verstehen.»
«Eine schwierige Lage für Sie!», meinte Poirot teilnahmsvoll.
Dann erhob er sich. «Mademoiselle, meinen verbindlichsten Dank für Ihre Güte und Hilfe.»
Auch Miss Lawson erhob sich. «Nichts zu danken, Mr Poirot – wirklich nichts zu danken. Ich freue mich, wenn Ihnen damit gedient war, und wenn ich Ihnen noch anders wie behilflich sein kann – »
Poirot kehrte von der Schwelle zurück und sagte gedämpft: «Miss Lawson, ehe ich’s vergesse: Charles und Theresa Arundell wollen das Testament anfechten.»
Jähe Röte stieg in ihre Wangen. «Das können sie nicht», antwortete sie heftig. «Mein Rechtsanwalt hat es gesagt.»
«Ah, Sie haben einen Anwalt zurate gezogen?», fragte Poirot.
«Natürlich. Warum auch nicht?»
«Durchaus begreiflich. Sehr vernünftig. Guten Tag, Mademoiselle.»
Als wir auf der Straße standen, schöpfte Poirot tief Atem. «Hastings», sagte er, «diese Person ist entweder wirklich, wie sie zu sein scheint, oder eine glänzende Komödiantin.»
«Offenbar ist sie fest überzeugt, dass Miss Arundell eines natürlichen Todes starb.»
Poirot antwortete nicht, sondern rief ein Taxi herbei und sagte zum Fahrer: «Durham Hotel, Bloomsbury!»